Russische Nabelschau




Russische Nabelschau

Beitragvon redaktion » Sa 22. Dez 2007, 05:30

MOSKAU, 20. Dezember (Jewgenija Tomilowa, RIA Novosti). In Artikeln und Kommentaren deutscher Journalisten werden die Ereignisse in Russland nicht ver-, sondern beurteilt und abgewogen.

Das war das Leitmotiv des Medienforums "Das Russlandbild in deutschen Medien", das das Deutsch-Russische Forum und die deutsche Botschaft in Moskau unter Beistand der RIA Novosti durchgeführt haben.

In Russland besteht die Meinung, dass die westliche Presse die Ereignisse in Russland voreingenommen beleuchtet. Oft wird den westlichen Massenmedien eine übermäßig kritische Einstellung und die Verbreitung längst veralteter Klischees über Russland vorgeworfen. Es ist zweifellos nicht abzustreiten, dass sich die Sicht der europäischen - gleich, ob der deutschen, französischen oder italienischen - Presse wesentlich von der Sicht der russischen Journalisten unterscheidet. Und das ist normal. Denn jeder Journalist in jedem Land der Welt muss seinen Stil, eine nur ihm eigene Handschrift und schließlich seine persönliche Meinung haben, die er dem Leser in seinem Material vermittelt. Kann aber gesagt werden, dass ausländische Korrespondenten absichtlich ein negatives Bild unseres Landes schaffen?

"Warum schreiben Sie so kritisch über Russland?" Diese Frage wird westlichen Journalisten so oft gestellt, dass sie schon beinahe rhetorisch wirkt.

Aber Boris Reitschuster, Korrespondent der deutschen Zeitschrift "Focus", behauptet, er könne gar nicht anders darüber schreiben: „Verstehen Sie mich bitte, ich schreibe über das, was ich erlebe. Man darf nicht auf den Spiegel schimpfen, wenn einem die Fratze darin nicht gefällt. Ich wurde in diesem Jahr festgenommen, ein Polizei-Auto hat mich angefahren, absichtlich, ein Polizist geschlagen, alles ohne juristische Folgen - und danach muss man sich auch noch Vorwürfe anhören, dass man in seinen Artikeln Russland nicht das Prädikat Rechtsstaat verleiht…“ Nach einer so emotionalen Äußerung möchte man Herrn Reitschuster einfach sein Mitleid ausdrücken. Es bleibt nur zu hoffen, dass nicht alle Auslandskorrespondenten, die in Russland leben, so oft mit den Organen der Rechtsordnung kollidieren.

Russland ist kein ideales Land, aber ideale Länder existieren überhaupt nicht. In Russland gibt es Probleme, gibt es himmelschreiende Fakten von Ungerechtigkeit, aber außer der Ungerechtigkeit, auf welche die in Moskau lebenden Auslandskorrespondenten so empfindlich reagieren, gibt es in Russland auch noch vieles andere, das die Möglichkeit gäbe, über Russland positiv zu schreiben. Doch aus irgendeinem Grunde kommt in den Materialien der westlichen Korrespondenten selten etwas Positives über Russland vor. Wie junge russische Journalisten, Stipendiaten von deutschen Studienprogrammen für angehende Journalisten, die ebenfalls zur Teilnahme am Forum eingeladen worden waren, mit Recht betonten, "zeigen die deutschen Kollegen oft nur die eine Seite Russlands und vergessen, dass es ein Land mit einer großen Vielfalt ist".

"Warum sprechen Sie nicht über die Kultur, den russischen Sport, die Wissenschaft?" wurde aus dem Saal gefragt.

„Wenn wir anfangen, über das Positive in Russland so zu schreiben, als sei es etwas besonderes, ungewöhnliches - ja, das wäre wirklich sehr schlimm. Das Positive ist die Norm, und Journalisten schreiben über das, was nicht in die Norm passt“, äußerte Boris Reitschuster. „Ich kann Ihnen ehrlich sagen, wenn ich meine Glossen schreibe, suche ich oft verzweifelt nach einem positiven Thema, aber dann hält einen wieder die Polizei auf, dann wird man im Restaurant zusammengestaucht, vom Taxifahrer betrogen - so leid es mir tut, fast jeden Tag erlebt man so etwas.“

Was während der von Fragen und Kommentaren überquellenden zweistündigen Diskussion verblüffte, war das aufrichtige Befremden, ja die Verwirrung der deutschen Korrespondenten, die partout nicht verstehen konnten, warum ihre jungen russischen Kollegen mit den Artikeln deutscher Massenmedien über Russland, das heißt faktisch mit ihrer Arbeit, unzufrieden sind. Denn die deutschen Korrespondenten sind davon überzeugt, dass sie ihre Pflicht als Korrespondenten ehrlich tun.

"Wir, die Korrespondenten in Moskau, versuchen unsere Arbeit zu machen, wir berichten kritisch über das, was in Russland passiert. Es ist nicht antirussisch, das ist einfach eine Beschreibung der Realitäten, so wie ich sie sehe", betonte Daniel Brössler, Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung". In Deutschland sei es üblich, die Macht zu kritisieren, behaupten die deutschen Journalisten. Aber die Kritik der Macht in Russland, die aus dem Westen komme, werde von den Russen aus irgendeinem Grunde als Kritik am Land als Ganzes empfunden. Die deutschen Journalisten können auf die von ihnen selbst gestellte Frage - "Warum muss man Kritik an Einzelheiten immer persönlich nehmen und denken, dass Russland im Ganzen kritisiert wird?" - keine Antwort finden.

Nicht alle Russen können die Artikel der Auslandskorrespondenten im Original lesen, dazu muss man zumindest die Sprache beherrschen. Aber die in Moskau akkreditierten westlichen Journalisten schreiben natürlich nicht für das russische, sondern für ihr eigenes Auditorium. Das Ziel ihrer Arbeit in Russland besteht darin, ihre Leser mit Informationen "aus erster Hand", das heißt solchen eines Augenzeugen, zu "versorgen". Warum aber sieht dieser Augenzeuge, dem seine Leser zweifellos vertrauen, alles, was in Russland geschieht, nur "in Grau"?

Welche Vorstellung von Russland bekommt der durchschnittliche Deutsche, wenn er auf dem Titelblatt einer soliden deutschen Zeitschrift einen Bären mit Schapka und einem aus der Tasche ragenden dicken Geldpacken sieht, wobei das einprägsame Bild noch von der Überschrift "Die Russen kommen" gekrönt wird? Oder noch ein Beispiel: Ein Beitrag auf der ersten Seite einer einflussreichen deutschen Zeitung mit der vielsagenden Überschrift: "Russland, das dunkle Imperium". Eine Studentin aus Moskau fragte: "Wozu uns in Deutschland nur von der negativen Seite zeigen? Der Leser vertraut ja seinen Journalisten, was kann er über Russland denken?"

Angesichts solcher Publikationen, Illustrationen und Überschriften fällt es dem russischen Leser schwer zu glauben, dass die deutschen Journalisten, die in seinem Land arbeiten, Russland tatsächlich mögen.

Die Phrase "Wir beurteilen die russische Realität vom Standpunkt eines Europäers" wirkt eben als Phrase und nicht sehr überzeugend. "Die Wahrheit zu sprechen und die Journalistenpflicht ehrlich tun": Diese Aufgabe haben die deutschen Journalisten, die in Russland arbeiten, für sich formuliert. Aber vom Standpunkt des russischen Lesers gelingt ihnen das nicht besonders. "Wer von uns nach Russland kommt, um professionell zu arbeiten, stellt erst nach sehr langer Zeit fest, dass die Fassade hier in Moskau und in St. Petersburg dem gleicht, was wir in Europa haben, aber sobald man eben etwas dahinter schaut, dann sieht es anders aus, und das ist unsere Aufgabe als Korrespondent in diesem Land, auf diese Unterschiede hinzuweisen, die nicht sofort, auf den ersten Blick auffällig sind": Soweit der Standpunkt von Donath Klaus-Helge, einem Korrespondenten der "Tageszeitung".

Wo liegt aber die Grenze zwischen einer objektiven Darlegung der Informationen und einer stereotypen Perzeption der Wirklichkeit? Woher wissen die Vertreter der deutschen Massenmedien, was richtig ist und was nicht? Warum sind sie so sehr davon überzeugt, dass gerade sie die Träger der Wahrheit sind? Boris Reitschuster sagt: „Sie schimpfen uns, dabei setzen wir uns für Ihre Rechte ein. Ich weiß zum Beispiel, dass Putin sehr gerne die deutschen Medien liest - weil er dort noch objektiv nachlesen kann, was wirklich im Land geschieht.“

Es ist wohl schwierig, in der Journalistik ganz objektiv zu sein, doch müsste man sich um eine Ausbilanziertheit bemühen. Dazu forderten im Zuge der Diskussion die russischen Teilnehmer die deutschen Journalisten auf. Russlands Bürger sind nicht gegen Kritik als solche, doch muss Kritik objektiv sein und auf der Kenntnis des Gegenstands beruhen. Liest man die deutschen Publikationen über das Russland von heute, so bekommt man den Eindruck, dass es den westlichen Journalisten an den notwendigen Kenntnissen für Überlegungen und Schlüsse noch mangelt. Vielleicht aber wollen sie diese Kenntnisse einfach nicht anwenden?
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Re: Russische Nabelschau

Beitragvon redaktion » Sa 22. Dez 2007, 05:33

"Person des Jahres 2007"

MOSKAU, 21. Dezember (Boris Kaimakow, RIA Novosti). Das US-Magazin "Time" hat Wladimir Putin zur "Person des Jahres 2007" gekürt.

Die Menschen, denen Putin missfällt, betonten sofort, dass er dadurch in die Gesellschaft der abscheulichsten Diktatoren der neuesten Geschichte - Hitlers und Stalins - gerate. Diejenigen, denen Putin sympathisch ist, weisen dagegen auf die große Zahl von durchaus anständigen Menschen hinter seinem Rücken hin, die für den Frieden, gegen den Hunger gekämpft und einen gewichtigen Beitrag zur modernen Welteinrichtung geleistet haben. Ihr Name ist Legion, unter ihnen ist selbst der anonyme Computer-User zu finden.

Man sollte lieber gleich auf die Erörterung dessen verzichten, nach welchen Kriterien der Titel "Person des Jahres" verliehen wird. Sie sind nicht einfach anfechtbar, sie gibt es überhaupt nicht. Die offizielle Formulierung, Putin habe "bei der Leitung des Landes eine außerordentlich hohe Kunst gezeigt", ist höchstens auf die Ausführung von Kunstflugfiguren anwendbar. Gerade deshalb ist der im Magazin veröffentlichte Artikel über Wladimir Putins Tätigkeit auf dem Posten des Präsidenten äußerst widersprüchlich - gleich dieser Tätigkeit selbst.

Aber an sich ist das ein sehr bemerkenswerter und für Wladimir Wladimirowitsch sehr angenehmer Fakt. Das war mit bloßem Auge zu sehen, als er den "Time"-Journalisten vor der offiziellen Verleihung des prestigeträchtigen Titels das obligate Interview gewährte. Aber die Fragen der Amerikaner ärgerten Wladimir Putin schließlich so sehr, dass er zuerst von ihnen verlangte, die Namen und Treffs der russischen Korruptionäre zu nennen, und sie dann mit den Worten, das Gespräch sei zu Ende, überhaupt um den Nachtisch brachte. Allerdings dauerte das Interview über drei Stunden lang, so dass es den Kollegen, wenn sie an den Nachtisch auch dachten, im Voraus hätte einfallen müssen, dass die Freundlichkeit des Präsidenten und die russische Gastfreundschaft unterschiedliche Dinge sind.

Ich hege nicht die Illusion, die "Time" habe Putin den Titel aufgrund von Sympathien verliehen. Gewollt oder ungewollt, doch eher instinktmäßig kam die Zeitschrift zu der Erkenntnis der Rolle Russlands in der Weltordnung. Und so stellte sich plötzlich heraus, dass der Mann im Kreml nur zu verfügen braucht, einen Gashahn zuzudrehen, damit die halbe Welt halb in Ohnmacht liegt. Es ist zweierlei, ob man über Chodorkowski und darüber nachdenkt, wie die höchsten Juristen von Russland das Recht selektiv anwenden, um Quellen der Instabilität zu repressieren oder ob dein Gasherd kein Gas hat, wo du dir doch gerade deinen Morgenkaffee machen wolltest.

Ein Präsident, der sich eine solche Politik leisten kann, verdient höchste Aufmerksamkeit. Er rüttelt nicht nur die nach dem Verschwinden der sowjetischen Gefahr friedlich schlummernden westlichen Politiker auf, er veranlasst dazu, sich als einen recht ernsten Reizfaktor aufzufassen, und kommt dem Mann von der Straße vielleicht sogar als Gefahr vor.

Die Münchner Rede von Wladimir Putin zeigte, dass auch Russland im Westen bereits nicht einen Partner, sondern eine Gefahr für die eigene Sicherheit sieht. Die Rede löste einen Schock aus. Zuerst schien es, dass es sich einfach um einen Gefühlsausbruch handelte, als aber die Flüge der Fernfliegerkräfte wieder aufgenommen, als erfolgreiche demonstrative Raketenstarts veranstaltet wurden und Russland seinen Ausstieg aus dem KSE-Vertrag bekannt gab, wurde klar: Dieser Präsident will ernst genommen werden. Klar wurde auch, dass die Sicherheitsinteressen Russlands mit denen des Westens praktisch nicht zusammenfallen. Auf jeden Fall hat er diesen Eindruck gewonnen, trotz all dem freundschaftlichen Umgang mit seinen Kollegen.

Also: Das Magazin "Time" beschreibt den russischen Präsidenten als eine höchst widerspruchsvolle Persönlichkeit. Innerlich kalt, mit einem unbeweglichen Blick, keine Opposition im Lande duldend, hat er zugleich besser als viele andere in Russland erkannt, dass das Land gerade ihn, Wladimir Putin, braucht. Dazu braucht, um Tschetschenien zum Frieden zu zwingen, dazu, um den Oligarchen, zumindest öffentlich, auch nur den Gedanken an einen möglichen Einfluss auf den Kreml auszutreiben, schließlich dazu, dem elendsarmen Russland das Gefühl des Stolzes auf die Heimat zurückzugeben. Und hier ist Wladimir Putin aufrichtig wie sonst keiner. "Wie die Zeit, so der Messias" - das könnte sein Slogan sein. Euch passt das Fehlen der Redefreiheit und der Demokratie nicht, mir aber passt nicht die verschleppte Auszahlung von Löhnen und Renten. Ich kann nicht das Eine und das Andere gleichzeitig geben, und überhaupt verstehe ich Stabilität nur dann, wenn es mir gelingt, die Machtvertikale mit beiden Händen zu halten. Wie sich dabei die demokratischen Schakale an die ausländischen Botschaften heranzuschleichen suchen, ist ihre Sache.

Es geht nicht darum, Wladimir Wladimirowitschs Blick zu erhaschen. Es gilt, nach den Wurzeln zu forschen. "Time" tat das. Mag sein, dass sich das Magazin bei der Wahl des Anwärters auf den Titel "Person des Jahres 2007" geirrt hat. Dass aber Russland den Beginn seiner Wiedergeburt erlebt, die mit Wladimir Putins Präsidentschaft zusammenfällt, ist kein Irrtum, das stimmt.
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